Dass den Menschen hier vor Ort die Verbindung von Sozialismus und Demokratie wagen wollten, noch weit in vordemokratischer Zeit, zeichnet sich früh ab. In den 1870er Jahren ist der Beruf des Hauswebers vor Ort vorherrschend. Kinderarbeit ist an der Tagesordnung. Der gewöhnliche Arbeitstag dauert zehn bis elf Stunden – manchmal ganze Nächte durch, wenn die Fabrikanten aus der Nachbartstadt Krefeld es so verlangen. Mit allen gesundheitlichen Folgen für die Menschen. Die Wirtschaft läuft auf Hochkonjunktur.
In den 1880er Jahren kommen allerdings mechanische, von Dampf betriebene Webstühle auf. Die Hausweberei wird durch Großproduktion in den Fabriken ersetzt. Die Webstühle der Hausweber stehen auf einmal still. Hunger kehrt ein – manch ein Unternehmer nutzt die Situation, um die Löhne weiter zu drücken. Zu dieser Zeit sind Staat und Gesellschaft vom Großbürgertum und dem Adel geprägt. (RP, 09.06.2023).
Seinen Ausdruck findet diese gesellschaftliche Ordnung unter anderem im preußischen Dreiklassenwahlrecht. Dieses ungleiche und indirekte Dreiklassenwahlrecht teilte die Wähler nach ihrem direkten Steueraufkommen in drei Klassen ein. Damit war es ein ungleiches Wahlrecht, weil die Stimmen je nach Klasse ein sehr unterschiedliches Gewicht hatten. In dem Buch eines lokalen Historikers aus Tönisvorst wird zitiert, „dass das Dreiklassen-Wahlsystem ungerechtfertigt sei, weil es die Arbeiter – die Mehrheit der Bevölkerung – in ihren Rechten verkümmere. Während es dem Capital, dem Besitze eine übermächtige Stellung anweise“ (Paul Wietzorek St.Tönis 1188-1969, S. 657). Andernorts belegen die Daten, dass die erste Klasse beispielsweise im Jahr 1908 nur vier Prozent der Wähler umfasste, aber ebenso viele Wahlmänner stellen durfte wie die dritte Klasse mit rund 82 Prozent der Wahlberechtigten.
Hier vor Ort fangen die Menschen im späten 19 Jahrhundert an, die geistigen Ketten des Deutschen Kaiserreiches zu sprengen. Entwickeln eigene Wertvorstellungen, streifen vieles ab, was ihnen eingebläut wurde. Wagen erste Schritte in Richtung Demokratie. Und dies auf friedlichem Weg. Es ist im Jahr 1874, als die erste Vorläuferorganisation der SPD in Form des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ vor Ort Erscheinung tritt. Der Verein verfolgt insbesondere den Zweck, „…auf friedlichem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung, für die Herstellung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts zu wirken… (Paul Wietzorek St.Tönis 1188-1969, S. 657)“.
Das ist dem deutschen Kaiserreich, das im negativen Sinne immer nationaler wird, ein Dorn im Auge. Das Deutsche Kaiserreich pflegt Untertanengeist – und nicht Selbstbestimmung. Und so wird diesen Anfängen der Sozialdemokratie im ganzen Land schnell ein Riegel vorgeschoben. 1878 wird das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, das so genannte „Sozialistengesetz“, gegen die Stimmen von Zentrum, Fortschrittspartei und SPD durchgesetzt. Es blieb 12 Jahre in Kraft. Anhänger der Sozialdemokratie werden als Reichsfeinde und vaterlandslose Gesellen betrachtet (Paul Wietzorek St.Tönis 1188-1969, S. 657).
Zwölf Jahre lang – bis 1890 – sind alle sozialistischen Organisationen und nicht christlichen Gewerkschaften verboten.
Dann fällt das Sozialistengesetz, als der Kanzler Bismarck in Unfrieden mit dem neuen Kaiser Wilhelm II zurücktritt. Was nichts an der Tatsache ändert, dass Sozialdemokraten als „Reichsfeinde“ weiter Repressionen erfahren. Bis hin zum Verlust der Arbeitsstätte oder der Kündigung der Wohnung. Und so waren viele Anstrengungen und eher unerschrockene Menschen erforderlich, damit die Sozialdemokratie Fuß fassen konnte. Menschen, die sich aus dem gedanklichen Korsett der damaligen Zeit befreien konnten, die die Selbstbestimmung wagten, Selbstzweifel abstreiften – sicherlich immer wieder begleitet von Existenzängsten und der Frage, ob das der richtige Weg ist, aber im Inneren gestärkt von dem Grundgedanken, dass Menschen zwar nicht alle gleich, aber gleichwertig sind. Dass es nicht die Geburt ist, die über den Wert des Menschen entscheidet – und seine Chancen im Leben. 18 von ihnen werden es schließlich sein, die vor Ort den Mut fassen, die SPD zu gründen (im Artikel der RP stehen 15, tatsächlich sind es insgesamt 18 mit Wilhelm Orts/Ortz – siehe Wietzorek). Zunächst kommt es im Gasthaus Leser – heute Heinrich V – zu sozialdemokratischen Versammlungen. Obwohl das Sozialistengesetz abgeschafft ist, baut sich seitens der Obrigkeit Widerstand auf. Als auf Drängen der Polizei den Sozialdemokraten im Gasthaus Leser die Tür gewiesen wird, lassen sie sich nicht einschüchtern, sondern gründen einfach – findig, wie sie sind – an anderer Stelle den ersten sozialdemokratischen Verein: Am 23. März 1894 mieten sie bei Peter Neppehsen, einem Händler für Flaschenbier, an der heutigen Vorster Straße 64, einen Raum. Hintergrund? Er hat keine Gaststätte mit dessen Schließung man ihm drohen könnte. Am 24. März 1894 melden die 18 dann ordnungsgemäß beim Bürgermeister ihren Verein an. Ziel des Vereins laut Statuten? Es geht um Bildung – es wird sogar ein Bibliothek gegründet. Es geht um gegenseitige Unterstützung – wenn man z.B. durch Vereinstätigkeit unverschuldet in Not gerät.
Im Ergebnis wird Tönisvorst im Ostteil des heutigen Kreises Viersen ein Zentrum der Arbeiterbewegung. Dabei sahen sich die Sozialdemokraten damals einem Überwachungs- und Unterdrückungsinstrumentarium ausgesetzt (Geschichte der Arbeiterbewegung, Norbert Pies, 1989, S. 63). Versammlungen und Veranstaltungen müssen bei der Ortspolizei angemeldet werden, die von dieser anschließend nicht nur überwacht, sondern bei denen auch die Reden protokolliert werden. Bei Teilnahme von Frauen (bis 1908) und Jugendlichen, werden die Versammlungen sofort aufgelöst – sofern die Frauen und Jugendlichen nicht von alleine gehen. Da Vereine ihre Mitgliederlisten offen legen müssen, kann der Bürgermeister diese Namen auch den Arbeitgebern melden. So kommt es auch am Niederrhein zu „Entlassungen wegen socialdemokratischer Agitationen“, wie es damals hieß. Aktive Sozialdemokraten verlieren häufig ihren Arbeitsplatz, bekommen die Wohnung gekündigt und werden aus anderen Vereinen ausgeschlossen. Dabei ergab sich auch ein unheilige Allianz mit der Kirche, mit ihrem alles beherrschenden Einfluss (Pies, S. 71). So berichtete der Landrat an den Regierungspräsidenten, dass „wo ein in dieser Beziehung rühriger Pfarrer an der Spitze steht, die socialdemokratischen Stimmen eine Verminderung erfahren haben..“ (Pies S. 72).
Die Ächtung durch die Obrigkeit hat die Sozialdemokraten vor Ort nicht daran gehindert, sich gegen alle Widerstände weiter für Betroffene einzusetzen. Wie zum Beispiel für die Frauen und Kinder vor Ort, die durch den Ersten Weltkrieg zu Witwen und Waisen wurden. Als beispielsweise 1920 der Gefallenen des Ersten Weltkrieges gedacht werden sollte, folgten drei Vereine der Einladung nicht: Der Turnverein Germania, der Gesangsverein Sängerbund und die freien Gewerkschaften. Aufschluss über die Gründe gibt ein Zeitungsartikel. Darin steht: „Wir trauern den Toten im Stillen nach und sind darauf bedacht, dass ihre überlebenden Angehörigen nicht noch mehr ausgehungert und bewuchert werden, und dass sie in anständigen Wohnungen ihr kärgliches Dasein fristen können“. So hatte die SPD (Mehrheitssozialisten) den Antrag gestellt, den Witwen 200 Mark und den Waisen jeweils 100 Mark zukommen zu lassen. Die SPD glaubte, durch solche tatsächliche Hilfe, auch die Toten am besten zu ehren. Die Vereine äußern in dem Artikel, dass es heute „eine Menge Schieber und Wucherer (gibt), und da anzunehmen war, dass auch Leute dieses Schlages an der öffentlichen Kundgebung teilnähmen, mussten besagte Vereine ihre Mitwirkung versagen. Wenn gesagt wird, dass nur 3 Vereine abgelehnt hätten, so hat man vergessen, den größten Verein am Orte, den sozialdemokratischen Volksverein, schriftlich einzuladen“ (aus Wietzorek, S. 647).
Wie sehr Sozialdemokraten trotz der Repressionen von Behörden und Kirche Haltung zeigten, wird auch an dem Beispiel des Seidenwebers Johann Rassmes deutlich. Er war Sozialdemokrat und hatte während seiner Krankheit jeden geistlichen Beistand zurückgewiesen, so dass ein kirchliches Begräbnis ausgeschlossen war. Beerdigt wurde er dann am 1.Mai 1897 von 20 Genossen – teils aus den umliegenden Städten, die den Seidenweber Rassmes zu Grabe trugen (S. 667 Wietzorek).)
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 26. Januar 1919 bekommt die SPD vor Ort fast jede zweite Stimme (Pies S. 183). 1920 bleibt die SPD zweitstärkste Partei. Dennoch gibt es im Kreis immer wieder Repressionen gegen aktive Sozialdemokraten – wie die Entfernung aus dem Schuldienst (Lehrer in Süchteln).
Vor den Wahlen 1930 war die NSDAP eine gänzlich unbedeutende „Sekte“ im Kreis Kempen-Krefeld. Ganze 339 Stimmen von rund 65.000 gab man ihr 1928. Frühere Nichtwähler, ehemalige Wähler der Mittelstandspartei, der Volksrechtspartei, der DVP machten im Wesentlichen die NSDAP im Kreisgebiet zur Massenpartei (Pies S. 248 und 249). Schließlich kommt es zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung (Pies S. 253). Juni 1933 wird die SPD verboten. SPD-Stadt- und Gemeinderäte sind abzusetzen, führende Funktionäre in Schutzhaft zu nehmen, heißt es (Pies, S. 269).
Nach dem Krieg gründet sie sich die SPD vor Ort neu. Mit Kräften, die schon vor 1933 aktiv waren und von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Wie Johannes Thabor, ein Polier, der ursprünglich aus der katholischen Jugendbewegung kam und 1901 der SPD beitrat. In Köln, Solingen und Krefeld aktiv, gehörte er bis 1932 dem Reichstag an. Nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wurde er festgenommen und im Juli 1933 zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Später war er mehrfach in Schutzhaft. Nach dem Krieg war er Kreistagsmitglied und Mitglied des Gemeinderates von St.Tönis (Wikipedia). Darunter war auch Paul Emmen, ein Eisenbahngewerkschafter, dessen Leben und Wirken jüngst noch die Schüler*innen an der Willicher Straße – seinem ehemaligen Wohnhaus – vorstellten. Emmen betätigte sich aktiv in der SPD und wurde daher im Jahr 1937 in Krefeld verhaftet. Sieben Jahre musste der St. Töniser in Haft verbringen. Dort misshandelten ihn die Nationalsozialisten so sehr, dass er bleibende Schäden davontrug (RP Mai 2024, https://rp-online.de/nrw/staedte/toenisvorst/toenisvorst-weitere-stolpersteine-in-st-toenis-verlegt_aid-112598161).
Zu den Gründungsmitgliedern der SPD vor Ort nach dem Krieg gehörte auch Johannes Stadtfeld, der kurzzeitig sogar Bürgermeister der Gemeinde Vorst war (Pies, S. 316). Ebenso gehörten dazu Willi Schmidt aus Vorst und Anton Beusch, St.Tönis, der 1932 der SPD beitrat und nach dem Krieg von 1948 bis 1975 Ratsmitglied und lange Zeit Vize-Bürgermeister war. Wie in den Jahren der Weimarer Republik kam es auch nach 1945 zu – von Sozialdemokraten initiiert – der Gründung von Ortsverbänden der Arbeiterwohlfahrt. Anton Besuch war einer der ersten, die in St.Tönis wieder die Arbeiterwohlfahrt gründeten. Die Folgen des Dritten Reiches und des Krieges waren deutlich – mit Hunger und Wohnungsnot. Die Solidarität der Arbeiterschaft und der Wille zur gegenseitigen Hilfe galten als wegweisend. 1948 bot die Awo die erste große Kinderstadtranderholung im Forstwald an. 1952 organisierte sie als erste Organisation im Kreis Kempen ein Fahrt für Senioren über 70 Jahren an. Auch die erste Müttererholung konnte 1952 durchgeführt werden (Pies S. 313).
Die Liste der Persönlichkeiten, die sich für die Menschen im Sinne der Sozialdemokratie mit Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichstellung der Geschlechter, Frieden und Völkerverständigung als Ziel eingesetzt hat, ist lang. Dazu gehört ganz unzweifelhaft Walter Schöler, seit 1966 Mitglied der SPD, von 1969 bis 1975 Ortsvereinsvorsitzender in Tönisvorst, der für sein Engagement im sozialen Bereich mit dem Bundesverdienstkreuzes und dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet wurde. Von 1992 bis 2005 war er MdB und in diesem Zuge unter anderem Vorsitzender des Vertrauensgremiums für die Budgetkontrolle der Nachrichtendienste. Noch heute ist er Mitglied in die fünfköpfige Landeskontrollkommission der SPD.